Verfassungs-Initiative: Start verschoben

Von Daniel Graf

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Die Lancierung der Verfassungs-Initiative war für Juni 2024 vorgesehen. Die Unterschriftensammlung muss jedoch verschoben werden. Es gelang noch nicht, genügend zugesagte Unterschriften und Startkapital zu erhalten. Hinzu kommt ein Faktor, mit dem wir nicht gerechnet haben: der Vertrauensverlust in unsere Demokratie.

Die Zukunft anpacken, statt zurückblicken. Unter diesem Motto haben wir letztes Jahr die Kampagne für eine neue Bundesverfassung lanciert. Die offizielle Schweiz feierte damals einen runden Geburtstag: Vor 175 Jahren trat die Bundesverfassung in Kraft. Heute steht die Schweiz wieder vor gewaltigen Herausforderungen. Darunter fallen eine alternde Bevölkerung, der Klimawandel und die rasante Digitalisierung. Statt Aufbruch erleben wir politische Grabenkämpfe, ein Gefühl der Blockade und des Stillstands.

Schweiz im Reformstau

Was uns antrieb, war ein Gefühl von Blockade und Stillstand, das wir überwinden wollten. Die Schweiz steckt im Reformstau, und wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen: einer alternden Bevölkerung, dem Klimawandel und der rasanten Digitalisierung.

Unser Plan war es, Artikel 138 der Bundesverfassung zu nutzen: 100'000 Unterschriften genügen, um eine Verfassungsrevision in Gang zu setzen. Mit einer Veranstaltungsreihe im vergangenen Sommer und einer grossen Kickoff-Veranstaltung im September in Bern haben wir die Verfassungs-Initiative vorgestellt und engagierte Bürger:innen eingeladen, Teil einer neuen Demokratiebewegung zu werden.

Das Echo war sehr positiv. Über 8'500 Personen haben unser «Manifest für ein Update der Schweiz» unterzeichnet. Deshalb haben wir Anfang Jahr mit den konkreten Vorbereitungen für die Lancierung der Volksinitiative begonnen. Der Start war für Juni geplant.

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Braucht die Schweiz eine neue Verfassung? Austauschtreffen in Zürich, 28. März 2023

Messlatte für Start

Für den Start haben wir uns zwei konkrete Ziele gesetzt. Bis Ende April wollten wir Zusagen für 60'000 Unterschriften erhalten. Aus unserer bisherigen Erfahrung mit Initiativprojekten ist dies das Minimum, um das vielleicht grösste Demokratieprojekt der Schweiz zu wagen und erfolgreich ins Ziel zu bringen.

Am 25. April zog die Stiftung für direkte Demokratie, welche die Trägerschaft der Initiative übernommen hatte, Bilanz. Bis zu diesem Zeitpunkt waren 51'140 Unterschriften versprochen worden. Dahinter standen 2'537 engagierte Personen, die im Durchschnitt rund 20 Unterschriften beisteuern wollten. Es blieb dennoch schwierig, das breite Interesse in verbindliches Engagement umzuwandeln, obwohl über 13'000 Personen durch unseren Newsletter laufend über den Stand der Dinge informiert wurden.

Der zweite Gradmesser, ob wir auf Kurs sind, war das Crowdfunding. Wir rechneten mit einem nötigen Startkapital von mindestens 200'000 Franken, um Drucksachen, Webseite, Veranstaltungen, Mobilisierung und die ganze Logistik zu finanzieren.

Am Stichtag hatten wir 71 Prozent davon erreicht: 141'885 Franken. Über 1’400 Personen haben sich beteiligt, die meisten mit einem Beitrag von knapp über 80 Franken. Die höchste Einzelspende betrug 1’848 Franken. Wir haben auch den Kontakt zu Stiftungen und Organisationen gesucht, stellten jedoch eine starke Zurückhaltung fest, so dass wir vor dem Start nicht mit finanzieller Unterstützung rechnen konnten.

Kickoff-Veranstaltung in Bern, 17. September 2023

Kickoff-Veranstaltung in Bern, 17. September 2023

Entscheid für Verschiebung

Aufgrund dieser Zahlen wurde deutlich, dass die Lancierung der Verfassungs-Initiative auf wackligen Füssen steht. Der fünfköpfige Stiftungsrat der Stiftung für direkte Demokratie hat deshalb beschlossen, den Start der Unterschriftensammlung zu verschieben.

Der Beschluss wurde einstimmig gefasst. Dabei haben auch die Erfahrungen eine Rolle gespielt, die wir in den letzten Monaten in Hunderten von Gesprächen gesammelt haben. Wir stellen fest: Unsere Analyse, dass die Schweiz in vielen Bereichen ein Update braucht, wird weitgehend geteilt, gerade wenn wir über Klimakrise, Digitalisierung und Demografie diskutieren. Es gibt aber auch Ängste.

Totalrevision als Risiko?

Ein Knackpunkt in vielen Diskussionen war die Frage, ob eine Totalrevision nicht ein Risiko sei. Es zeigte sich, dass viele Menschen Angst haben, dass erkämpfte Errungenschaften in Frage gestellt werden könnten. Mit dem Hinweis, dass Demokratien weltweit unter Druck stehen, autoritäre Regime zunehmen und rechtspopulistische Bewegungen Demokratien von innen aushöhlen.

Mit Blick auf die Schweiz haben wir oft gehört, dass viele sich Sorgen machen, dass die Polarisierung zunimmt und wichtige Entscheidungen im Parlament blockiert oder auf die lange Bank geschoben werden.

Demokratie im Gegenwind

Diesen «Zeitgeist» einfach zu ignorieren, ist nicht hilfreich, wenn wir eine Volksinitiative starten und mit vielen Menschen in Kontakt treten wollen. Gerade angesichts der aktuellen Krisen und Kriege sowie der Europawahlen und der Präsidentschaftswahlen in den USA, die die politische Unsicherheit noch verstärken, mussten wir dies bei unserer Entscheidung berücksichtigen.

Unser politisches System steht in der Tat unter Druck, der durch die globalen Krisen noch verstärkt wird. Die Verfassungs-Initiative ist eine Antwort darauf. Wir sind überzeugt: Stillstand ist keine Alternative, Stillstand ist ein Risiko. Jetzt gilt es, Blockaden aufzubrechen und Veränderungen möglich zu machen. Die Schweiz braucht Mut zu mehr Demokratie und mehr engagierten Menschen, welche eine Totalrevision der Bundesverfassung mittragen und unterstützen.

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Update Schweiz – Vortrag von Daniel Graf am Datenschutz-Festival, 3. November 2023.

Agenda-Setting mit Zukunftsrat

Beim Vertrauensdefizit ist ein weiterer Aspekt wichtig: Viele trauen der Zivilgesellschaft im Kräftespiel mit Regierung, Parlament und Interessengruppen zu wenig zu. Dabei ist das Ziel der Verfassungs-Initiative, dass die Stimme der Bevölkerung im politischen Prozess gestärkt wird. Im Falle eines Abstimmungserfolgs hätte ein neu gewähltes Parlament den Auftrag, einen neuen Verfassungstext auszuarbeiten und zur Abstimmung zu bringen.

Um das Heft nicht aus der Hand zu geben und die Totalrevision aktiv mitzugestalten, haben wir ein neues Gremium eingeführt: einen repräsentativ zusammengesetzten Bürger:innen-Verfassungsrat. Dieser «Zukunftsrat» soll – unterstützt von Fachleuten – einen mehrheitsfähigen Verfassungsvorschlag erarbeiten und die parlamentarische Debatte begleiten.

In den letzten Jahren gab es verschiedene Projekte, die auf Bürger:innenräte setzten. Doch stehen wir in der Schweiz bei diesen partizipativen Prozessen noch am Anfang. Das gilt auch für Online-Plattformen, die neue Austauschformate und Entscheidungsverfahren ermöglichen. Die Wenigsten können sich heute vorstellen, dass mit 1'000, 10'000 oder sogar 100'000 engagierten Bürger:innen eine konstruktive Auseinandersetzung möglich ist, die über die gewohnten Ja-Nein-Abstimmungen hinausgeht. Hier muss die Verfassungs-Initiative noch viel Überzeugungsarbeit leisten und selbst Praxiserfahrungen sammeln.

Nächste Schritte

Wie geht es weiter? Der Weg zu einer zeitgemässen Verfassung ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Wir bleiben dran und werden in den nächsten Wochen den Plan für eine zeitgemässe Verfassung ausarbeiten.

Wir werden unsere bisherige Kampagne reflektieren und aus Fehlern lernen. Dies nicht im stillen Kämmerlein, sondern mit Fachpersonen und unserer Community, die die Verfassungs-Initative unterstützt. Mehr zum Vorgehen folgt in Kürze. Bis Anfang Juli wollen wir einen Zwischenbericht vorlegen und die nächsten Schritte einleiten.

Wir bedanken uns bei allen, mit uns das mutige Demokratieprojekt gestartet haben. Wir hoffen weiterhin, auf euch zählen zu dürfen. Gemeinsam schreiben wir Demokratie-Geschichte!

 

Stiftung für direkte Demokratie

Die erste Crowd-Stiftung der Schweiz

Die Stiftung fördert die politische Partizipation der Bevölkerung und unterstützt zivilgesellschaftliche Projekte, welche sich für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung und Nachhaltigkeit einsetzen.

Gegründet 2020 als Stiftungsfonds unter dem Dach von Fondations des Fondateurs, gewährleistet die Stiftung den Betrieb der Demokratie-Plattform WeCollect und stellt digitale Werkzeug für die Lancierung von Initiativen und Referenden kostenlos zur Verfügung.

Als erste Crowd-Stiftung der Schweiz steht sie auf den Schultern einer wachsenden Community von engagierten Bürger:innen. Sie finanziert die laufenden Projektarbeit durch Spenden und Gönnerschaften.

 

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