«Ungerechtigkeiten kann ich sehr schlecht aushalten»

Porträt Stiftungsrat Marco Kistler

· Jahresbericht 2024

Marco Kistler ist seit fünf Jahren Stiftungsrat der Stiftung für direkte Demokratie. Im Gespräch erzählt er, wie ihn die Glarner Landsgemeinde prägte, warum er die 1:12-Initiative lancierte und weshalb er lieber im Hintergrund arbeitet.

Marco Kistler hat die direkte Demokratie von Kindesbeinen an hautnah miterlebt. Aufgewachsen im Kanton Glarus, stand er selbst Jahr für Jahr auf dem Zaunplatz mitten im Ortskern, wo über Geschäfte debattiert und abgestimmt wurde. Der Kanton Glarus ist neben Appenzell Innerrhoden der einzige mit einer Landsgemeinde. «Diese Erfahrung hat mich sicher politisiert“, sagt der 40-Jährige. «Es ist eine besonders interessante Mischung aus direkter Demokratie und Tradition.»

Als Schüler habe er sich an dem ungerechten Bildungssystem gestört. «Ungerechtigkeiten und Machtgefälle kann ich bis heute sehr schlecht aushalten», sagt Kistler. Bei den Jungsozialist:innen fand er bald eine Möglichkeit, seine Anliegen auch politisch einzubringen. Mit 16 war er im Kanton Glarus aktiv und mit 23 Jahren trat er der Geschäftsleitung der Juso Schweiz bei. Er leitete die kantonale Kampagne für das Stimmrechtsalter 16 mit. Mit Erfolg: 2007 nahm die Landsgemeinde die Initiative knapp an. Bis heute ist Glarus der einzige Kanton schweizweit mit aktivem Wahlrecht ab 16 Jahren. Und ein paar Jahre später wurde Kistler für die SP in den Gemeinderat der neuen Gemeinde Glarus Nord gewählt.

Schweizweit bekannt wurde er als Erfinder der 1:12 Initiative. Sie forderte, dass der Meistverdienende in einem Betrieb höchstens zwölfmal so viel kassieren darf wie derjenige, der am wenigsten bekommt. In der Idee spiegelt sich Kistlers Gerechtigkeitssinn wider: «Ich wollte dort ansetzen, worüber sich Menschen aufregen», sagt er.

Hinter der Kampagne steckte viel Arbeit. Der Grossteil der gesammelten Unterschriften wurden auf der Strasse gesammelt, die Briefmarken für einen Postversand der Unterlagen konnte sich das Initiativkomitee nicht leisten. «Damals gab es noch viel weniger Kampagnenerfahrung als heute», sagt Kistler. «Vieles mussten wir als Juso aus dem Boden stampfen.»

Dass die Initiative 2013 abgelehnt wurde, sei keine grosse Enttäuschung gewesen. «Wir konnten sehr viele Menschen mobilisieren und das Ziel, eine öffentliche Debatte über das Thema anzustossen, haben wir definitiv erreicht.»

Als Stiftungsrat für die Stiftung für direkte Demokratie, tritt Kistler für eine demokratische Vision ein. Geht es nach ihm, braucht es ein demokratisches Wirtschaftssystem. So dürfe beispielsweise der Erfolg einer Abstimmung nicht von ökonomischer Macht abhängig sein. «In der aktuellen Weltlage fühlt sich das vielleicht nach einem defensiven Thema an», sagt Kistler. Gerade deshalb sei die Arbeit der Stiftung so wichtig: «Sie versucht, Demokratie offensiv anzugehen und zugänglich zu machen.»

Im Jahr 2014 gab er seine politischen Ämter als Gemeinderat und Landrat im Kanton Glarus ab. «Ich stehe nicht gerne im Rampenlicht.» Lieber arbeite er an der Infrastruktur. Derzeit lebt er diese Rolle bei der 2019 von ihm mitbegründeten Kampagnenagentur digital/organizing aus. Die Agentur unterstützt Organisationen, ihre Projekte und Kampagnen so zu führen, dass man am Ende «stärker dabei hinausgeht», so Kistler. Das sei das wichtigste. «Dass man politisch sofort gewinnt, ist nicht immer realistisch.»

Als Vater von zwei Kinder teilt er sich ausserdem die Care-Arbeit mit seiner Partnerin, der SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer, auf. «Für eine faire Aufteilung von Familie und Beruf fehlen in der Schweiz die auch Rahmenbindungen, wie eine anständige, zwingend paritätische Elternzeit für beide Eltern», sagt Kistler. Gerade als Mann könne man sich aber dafür einsetzen, nicht dem klassischen Rollenbild zu verfallen. Das bedeute auch, Nein sagen zu können, findet Marco Kistler. «Anders geht es nicht.»

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