Fast ein Jahr haben wir am Initiativtext gearbeitet, Inputs von juristischen Fachpersonen verarbeitet und Rückmeldungen von Selbstvertretenden sowie Organisationen und Verbänden eingeholt. Jetzt liegt ein prägnanter Vorschlag auf dem Tisch, der die Rechte von Menschen mit Behinderung stärken und ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen soll. Der Start für die Volksinitiative ist für April 2023 geplant.
Starten wir mit einem kurzen Rückblick: Im Herbst 2021 haben wir mit dem Verein Tatkraft das Projekt «Inklusions-Initiative» gestartet und eine Aktion auf dem Bundesplatz durchgeführt. Daraufhin sind die nationalen Verbände Inclusion Handicap und Agile.ch rasch mit uns in einen Austausch getreten und haben über mögliche Ziele und Inhalte der Initiative diskutiert.
Bald darauf haben wir eine gemeinsame Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, welche die erste Fassung des Initiativtextes vorbereitete. Dies mit dem Ziel, eine von Selbstvertreter:innen, Verbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen gleichermassen getragene, überparteiliche Volksinitiative zu lancieren. Bei der Abfassung des Initiativtextes wurden die Professoren Thierry Tanquerel und Markus Schefer beigezogen.
Den ursprünglichen, breit formulierten Textentwurf haben wir im Herbst 2022 veröffentlicht und anlässlich mehrerer Workshops mit Selbstvertretenden diskutiert. Aufgrund der Rückmeldungen wurde der Initiativtext überarbeitet und im Dezember bei der Bundeskanzlei zur Vorprüfung eingereicht.
Neuer Initiativtext
Der Initiativtext hat die Arbeitsgruppe im November 2022 im Konsens verabschiedet. Die gewünschten Verfassungsänderungen sind in einem neuen Artikel 8a zusammengeführt worden. Hier der Initiativtext im Wortlaut:
Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:
Art. 8a (neu) Rechte von Menschen mit Behinderungen
1 Das Gesetz stellt die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderungen in allen Lebensbereichen sicher. Menschen mit Behinderungen haben im Rahmen der Verhältnismässigkeit Anspruch auf die dafür erforderlichen Unterstützungs- und Anpassungsmassnahmen, insbesondere auch auf personelle und technische Assistenz.
2 Menschen mit Behinderungen haben das Recht, ihre Wohnform und ihren Wohnort frei wählen zu können und im Rahmen der Verhältnismässigkeit auf die dafür erforderlichen Unterstützungs- und Anpassungsmassnahmen.
Fokus: Gleichstellung, Wohnen und Assistenz
Die Eckpunkte der aktuellen Fassung lassen sich wie folgt beschreiben:
- Artikel 8a beauftragt den Gesetzgeber zur Sicherstellung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in sämtlichen Lebensbereichen, neu ohne spezifische Lebensbereiche hervorzuheben.
- Der Artikel gibt Menschen mit Behinderungen ein Recht auf die zur Sicherstellung ihrer Gleichstellung nötigen Anpassungs- und Unterstützungsmassnahmen, mit Verweis auf die Verhältnismässigkeit.
- Der Text erwähnt explizit den Anspruch auf personelle und technische Assistenz sowie das Recht, die Wohnform und den Wohnort frei wählen zu können.
Sammelstart im April 2023
Am 20. Januar 2023 entscheiden die beiden Verbände Inclusion Handicap und Agile.ch darüber, die Inklusions-Initiative zu unterstützen und mit dem Verein Tatkraft, der Stiftung für direkte Demokratie und weiteren Trägerorganisationen zu starten. Die Unterschriftensammlung soll im April 2023 beginnen.
Wir freuen uns, die Inklusions-Initiative zu starten und sind bereits daran, ein überparteiliches Bürger:innen-Komitee vorzubereiten. Mehr Informationen folgen – abonniert den Newsletter!
Hintergrund-Informationen zur Inklusions-Initiative
Warum braucht es eine Inklusions-Initiative?
In der Schweiz leben rund 1.8 Millionen Menschen mit Behinderungen (Quelle: BfS 2016). Dank unserem System der Sozialversicherungen erhalten viele unter ihnen individuelle Unterstützung. Trotzdem stossen viele Menschen mit Behinderungen tagtäglich auf zahlreiche Barrieren, die ihre autonome Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wesentlich erschweren oder sogar verunmöglichen. Unsere Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht nicht für und mit Menschen mit Behinderungen gedacht. Sie ist nicht inklusiv.
Die Schweiz hat seit 22 Jahren ein Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung in der Verfassung, verfügt über ein Behindertengleichstellungsgesetz und hat die UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) ratifiziert. Die bestehenden rechtlichen Grundlagen genügen aber offensichtlich nicht, damit Menschen mit Behinderungen dieselben Rechte wie Nichtbehinderten garantiert werden. Bis heute ist für Menschen mit Behinderungen die Gleichstellung, ein selbstbestimmtes Leben und der Zugang insbesondere zu Arbeit, Bildung, Gebäuden, Verkehr, politischer Partizipation und Dienstleistungen nicht sichergestellt. Die Inklusionsinitiative setzt die Politik unter Druck, damit diese endlich vorwärts macht und ihre Verpflichtungen erfüllt.
Was will die Initiative konkret?
Die Inklusionsinitiative will einerseits den Grundsatz der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in der Verfassung verankern. Dieser ist mit dem heutigen Art. 8 Abs. 4 BV nicht gegeben. Gleichzeitig will die Initiative zwei Hauptanliegen für ein selbstbestimmtes Leben konkret voranbringen: Den Anspruch auf personelle und technische Assistenz sowie die freie Wahl der Wohnform und des Wohnorts. Die Initiative hat damit das Potenzial, nebst der breiten Sensibilisierung der Öffentlichkeit und eines Paradigmenwechsels in der Bundesverfassung, ganz konkret Fortschritte für Menschen mit Behinderungen zu erreichen.
Wem nützt die Inklusions-Initiative?
Die Inklusions-Initiative ist ein Meilenstein auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft , die Behinderungen und Krankheiten als Teil des Menschseins anerkennt und konsequent mitdenkt. Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen machen rund 20 Prozent der Bevölkerung aus (Quelle: BfS 2016).
Diese Zahl kommt vielen Nichtbetroffenen oft zu hoch vor. Doch nicht jede Behinderung oder chronische Erkrankung ist von aussen oder wahrnehmbar. Zudem werden fast alle Menschen mit dem Älterwerden – früher oder später – von einer oder mehreren Behinderungen betroffen sein.
Wer unterstützt die Inklusions-Initiative?
Die Inklusions-Initiative soll getragen werden von einem überparteilichen, breiten Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen Netzwerken, von Menschen mit Behinderungen, Fachorganisationen und Verbänden. Ein Ziel der Initiative ist, dass Menschen mit Behinderungen bei der Erarbeitung der Initiative wie auch bei der Unterschriftensammlung involviert sind und ihre Anliegen direkt einbringen können. An der Vorbereitung waren Agile.ch, Inclusion Handicap, der Verein Tatkraft und wir, die Stiftung für direkte Demokratie, beteiligt.
Die erste Crowd-Stiftung der Schweiz
Die Stiftung für direkte Demokratie fördert die politische Partizipation der Bevölkerung und unterstützt zivilgesellschaftliche Projekte, welche sich für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung und Nachhaltigkeit einsetzen.
Gegründet 2020 als Stiftungsfonds unter dem Dach von Fondations des Fondateurs, gewährleistet die Stiftung den Betrieb der Demokratie-Plattform WeCollect und stellt digitale Werkzeug für die Lancierung von Initiativen und Referenden kostenlos zur Verfügung.
Als erste Crowd-Stiftung der Schweiz wird getragen von einer wachsenden Community von engagierten Bürger:innen. Sie finanziert die laufenden Projektarbeit durch Spenden und Gönnerschaften.
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