Am 15. Mai nahm die Schweizer Stimmbevölkerung die Erhöhung des Budgets für die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex an. Die Möglichkeit sich regelmässig zu sachpolitischen Themen äussern zu können, hat in der Schweiz eine lange Tradition und ist ein einzigartiges Privileg in Europa. Wie eine repräsentative EU-Vergleichsstudie zeigt, ist auch in den EU-Staaten der Wunsch nach mehr Mitbestimmung gross: 73 Prozent sprechen sich für nationale Urnengänge zu Sachentscheidungen und ebenso 73 Prozent für europaweite Volksabstimmungen aus.
Eine Vergleichsstudie, die im Vorfeld der Frontex-Abstimmung in der Schweiz im März von gfs.bern durchgeführt wurde, gibt Einblick in die Bekanntheit und Einstellungen der Bevölkerung von 25 EU-Ländern zur Frontex. Sie zeigt, dass die europäische Bevölkerung sich mehr zu sachpolitischen Fragen äussern möchte.
Frontex fliegt unter dem Radar
Eine zentrale Erkenntnis der Vergleichsstudie ist: Die Grenzagentur Frontex ist in allen befragten europäischen Ländern nur einem geringen Teil der Bevölkerung überhaupt bekannt. In rund einem Drittel der Länder hat die Mehrheit der Befragten zumindest einmal von Frontex gehört. In allen anderen Ländern kennt die Mehrheit die Organisation nicht. Einzig Griechenland bildet eine Ausnahme mit 86 Prozent die angeben, Frontex mindestens vom Namen her zu kennen. Das erstaunt nicht völlig, da Frontex in Griechenland stark präsent ist.
Auf EU-Ebene zeigt sich eine generell bejahende Einstellung gegenüber Frontex. 55 Prozent der Befragten haben eine grundsätzlich positive Meinung von Frontex, während nur eine Minderheit von 14 Prozent ein negatives Bild hat. Eine genauere Analyse dieser Aussagen zeigt auch hier die Unkenntnis. Nur 15 Prozent haben eine klar positive und 3 Prozent klar negative Einstellung zu Frontex.
Aus der gfs.bern-Studie geht zudem hervor, woher die generell hohe Zustimmung stammt. Neben der fehlenden allgemeinen Kenntnis von Frontex ist, damit einhergehend, auch die Kritik an der EU-Agentur nur sehr wenigen bekannt. Gerade einmal 26 Prozent der Befragten haben schon einmal von der Kritik an Frontex gehört, darunter die Beteiligung an Pushbacks. Fast zwei Drittel kennen diese durch Medien und EU-Untersuchungen belegten Vorwürfe nicht. Nur gerade in vier Staaten kennen 40 und mehr Prozent die Kritik, darunter Griechenland (46%), Österreich (42%), Deutschland (41%) und Litauen (40%). Dagegen haben in Irland (9%), Schweden (14%), Slowakei (15%) und Frankreich (19%) die wenigsten Menschen je davon gehört.
Ein Ja zu Frontex in Europa
Die niedrige Bekanntheit von Frontex und das fehlende Wissen um die Kritik zeugt von einem wenig ausgeprägten Problembewusstsein. Unter diesen Voraussetzungen ist es wenig erstaunlich, dass sich auf europäischer Ebene eine deutliche Mehrheit an Befürworter:innen bei einer Abstimmung finden würden: 44 Prozent tun dies dezidiert («bestimmt dafür») weitere 33 Prozent mit Abstrichen («eher dafür»).
Bemerkenswert ist dabei, dass es sehr darauf ankommt, wie die Frage gestellt wird, ob die menschenrechtliche Kritik sich auf die Zustimmung auswirkt. Wird ein stärkerer Grenzschutz einer Verbesserung der menschenrechtlichen Situation gegenübergestellt, so wird der Grenzschutz höher gewichtet. Lautet die Aussage jedoch: «Bevor Frontex mehr Geld erhält, muss die Organisation den Schutz der Menschenrechte besser in den Griff kriegen», so findet sie mit 63 Prozent Ja und 17 Prozent Nein (bei 20% weiss nicht, keine Antwort) eine klare Mehrheit.
Ausgeprägter Wunsch nach mehr Demokratie
Die Vergleichsstudie hat sich auch mit der Frage befasst, ob die Bevölkerung in der EU an einer Abstimmung zu sachpolitischen Themen wie Frontex interessiert wäre. Das Ergebnis fiel sehr deutlich aus. Auf die Frage, ob eine Abstimmung zu Frontex auf nationaler eine gute Idee wäre, sprechen sich 60 Prozent der Befragten dafür aus. Bei einer Abstimmung auf europäischer Ebene sind es 66 Prozent. Noch deutlicher wird der Wunsch, wenn es um die generelle Frage nach Volksabstimmungen geht. Hier sprechen sich 73 Prozent sowohl für nationale als auch europaweite Volksabstimmungen aus.
In verschiedenen Ländern in Europa gibt es bereits auf kommunaler und regionaler Ebene direktdemokratische Instrumente. Dazu werden nationale Referenden zum Teil abgehalten, um die Regierungspolitik zu legitimieren oder um unerwünschte Vorschläge abzuwiegeln. Zudem existiert seit dem 1. April 2012 die Europäische Bürgerinitiative. Zwar baut diese – wie in der Schweiz – auf der gleichen Idee auf, dass eine Minderheit der Gesellschaft das politische Recht haben soll, einen Dialog über ein Thema «von unten» anzustossen, ganz unabhängig von der herrschenden Mehrheit. Doch im Gegensatz zu einer Volksabstimmung in der Schweiz kann diese der EU letztlich nur einen Antrag auf eine Gesetzesänderung unterbreiten.
Lange Tradition der Meinungsbildung
In der Schweiz haben Volksabstimmungen eine lange Tradition. So zeigt sich hierzulande auch eine hohe Übereinstimmung zwischen der Zustimmung zu spezifischen Argumenten und den daraus resultierenden Abstimmungsentscheiden. Dies ist ein entscheidender Indikator dafür, dass der Meinungsbildungsprozess in der Schweiz gut funktioniert und spiegelt die Fähigkeit der Bevölkerung, sich eine belastbare politische Meinung zu bilden.
Die Studie zeigt, dass die Bevölkerung der befragten EU-Länder bei der Kongruenz zwischen inhaltlichen Argumenten und Stimmabsicht leicht schlechter abschneidet als die Schweizer Bevölkerung. Wobei hier sicher eine wichtige Rolle spielt, dass der Meinungsbildungsprozess in der Schweiz zum Zeitpunkt der Umfrage durch die anlaufende mediale Begleitung zum Abstimmungskampf bereits fortgeschritten war.
Was braucht eine Demokratie
Aus der europaweiten Vergleichsstudie rund um die aktuelle Frontex-Abstimmung in der Schweiz lässt sich ein Fazit deutlich ziehen: Erst eine öffentliche Diskussion macht es für Bürger:innen möglich, sich eine politische Meinung zu Sachthemen zu bilden. Ohne diese öffentliche Auseinandersetzung, kann auch kein Problembewusstsein für Themen entstehen, welche von der institutionellen Politik eher vernachlässigt werden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass oftmals erst der Druck der öffentlichen Meinung zum politischen Willen führt, wirksame Reformen anzustossen.
Die Schweiz zeigt, dass mittels direktdemokratischer Instrumente oftmals ein politischer Prozess in Gang gesetzt werden kann, ohne das eine Initiative oder ein Referendum an der Urne gewonnen wurde. Im Falle von Frontex hätte ein Nein möglich gemacht, dass das Parlament die Vorlage hätte nachbessern und die Erhöhung des Budgets an zusätzliche legale Möglichkeiten zur Flucht in die Schweiz gekoppelt werden könnten.
Trotz der deutlichen Niederlage an der Urne, hat das Referendum etwas wichtiges erreicht: In der Schweiz ist die Kenntnis über Frontex und die Kritik daran deutlich gestiegen. Gerade mit Blick auf die europäische Studie wird deutlich, wie wichtig dieses Problembewusstsein ist, wenn in Zukunft Frontex an ihrem eigenen menschenrechtlichen Standard gemessen werden soll.
Frontex-Abstimmung in der Schweiz
Am 15. Mai 2022 hat die Schweizer Stimmbevölkerung über die Beteiligung der Schweiz am Ausbau von Frontex, der europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache abgestimmt. Der Ausbau wurde mit 71,5 Prozent angenommen.
Die Schweiz gehört wie die meisten EU-Staaten sowie Norwegen, Island und Liechtenstein zum Schengen-Raum. Die Schweiz beteiligt sich seit 2011 an Frontex. Der Beitrag der Schweiz soll bis 2027 von 24 Millionen Franken auf rund 61 Millionen Franken steigen.
Bundesrat und Parlament wollten, dass sich die Schweiz am Ausbau von Frontex beteiligt. Frontex sei wichtig für die Kontrolle der Schengen-Aussengrenzen und die Sicherheit in Europa. Dagegen wurde das Referendum ergriffen. Die Gegnerinnen und Gegner argumentierten, dass die Schweiz Pushbacks und Menschenrechtsverletzungen durch Frontex mitverantwortet, indem sie die Agentur finanziell und personell unterstützt.
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